Der achtgliedrige Yoga-Pfad beschreibt, welche aufeinander aufbauenden Teile den Weg des Yoga vervollständigen. Wir hier in Europa praktizieren zumeist Âsana – Haltungen und Positionen mit unserem Körper – und meinen damit, dass wir Yoga machen. Wegen der enormen geistigen Unruhe, die wir hierzulande empfinden, kennen und nutzen wir mittlerweile auch ein weiteres Glied dieses Pfades sehr gern: Prânâyâma – Atemübungen. Wir suchen Wege aus unserer geistigen Unruhe, aus unserer Überforderung. Âsana und Prânâyâma sind zwei Glieder des Pfades, die wir aktiv tun können. Es gibt aber auch weitere, eher passive Teile des Yoga-Konzepts, die zusammen zum Großen Ganzen führen. Yoga bedeutet einen Punkt zu erreichen, an dem wir zuvor noch nicht waren. Auf geistiger Ebene kann darunter auch mehr Klarheit verstanden werden. Wir sind häufig so abgelenkt, so von Reizen überschwemmt, dass es kein Wunder ist weshalb sich Yoga immer weiter verbreitet in einer Welt, die von Ablenkungen nur so sprießt. Sich zu fokussieren, zu konzentrieren muss aktiv geübt werden. Aber wie können wir mehr Klarheit erlangen? Wie können uns weitere Glieder des Yoga-Pfades dabei helfen?
Wir sind ständig durch Reize abgelenkt
Bereits während ich diesen Beitrag schreibe fällt mir immer wieder auf, wie unkonzentriert ich bin. Mein Handy liegt neben mir, weil das fast normal geworden ist. Es ist angewachsen, es ist Teil der Einrichtung. Es fällt mir kaum bewusst auf. Ebenso wenig der sich permanent wiederholende Impuls es zu greifen und etwas nachzusehen. Ein Gedanke kommt und ich greife völlig automatisiert zu meinem Handy. Ich google mal eben die Antwort auf irgendeine Frage in meinen Gedanken. Ich schaue die Termine nach. Habe ich eine Nachricht erhalten? Eine e-Mail bekommen? Selbst das Ausschalten der Benachrichtigungen bringt nicht die erhoffte Erlösung – ich sehe also noch nicht einmal mehr die eingegangenen Nachrichten auf dem Sperrbildschirm, nein, ich muss aktiv die entsprechende App öffnen, um meine Neugier zu befriedigen. Das alles passiert nebenbei und unachtsam – manchmal bemerke ich erst, dass ich es tue, wenn ich schon mitten drin bin. Unter dessen vergesse ich schon das xte Mal meinen Stundenzettel mit zur Yoga-Stunde zu bringen (den ich brauche, um für die Ausbildung Stunden nachzuweisen) und kann es dort angekommen jedes Mal nicht fassen, so unkonzentriert zu sein. Was aber geschieht? Ich lese noch „mal eben“ zwischen Tür und Angel eine Nachricht, bin wie immer 5 Minuten zu spät dran und hechte dann zum Auto.
Eine Studie der Firma Microsoft stellte bereits im Jahr 2015 fest, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne mittlerweile noch ganze 8 Sekunden beträgt – ein Goldfisch hat eine längere von 9 Sekunden. Wir sind ständig abgelenkt, durch Pop Ups, durch Werbung, durch Anrufe, Nachrichten, e-Mails. Durch die Möglichkeit „mal kurz“ etwas nachzusehen. Multitasking ist zwar eine Illusion, weil man nicht gleichermaßen effizient mehrere Dinge erledigen kann und dabei die volle Konzentration behält, aber trotzdem telefonieren wir während der Autofahrt, schreiben Nachrichten während eines Telefonats, scrollen auf dem Smartphone während wir Fernsehen und lassen uns ständig raus reißen, wenn wir versuchen, unseren Fokus zu halten. Wir machen mehreres gleichzeitig und am Ende des Tages fragen wir uns, wieso wir so zerstreut sind. Wieso unser Geist so unruhig ist und wir keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Die Erreichbarkeit macht uns süchtig, unsere Smartphones machen uns noch süchtiger. Das ist ganz normal, aber je unfokussierter wir werden, desto unwohler fühlen wir uns. Die Gedanken an unsere To-Dos, die neben einer Tätigkeit auf uns einprasseln, lenken uns ab. Lassen wir das zu und reagieren auf sie, wird das zu einem automatischen Prozess. Es übt sich. Das Gehirn gewöhnt sich daran. Und sich konzentriert auf nur eine Sache für eine Stunde zu besinnen wird immer schwieriger.
Yoga hat Antworten und Möglichkeiten
Yoga beschäftigt sich mit der Unruhe unseres Geistes und zeigt uns Wege und Möglichkeiten, mehr Kontrolle über den Geist zu erlangen und ihn so klarer werden zu lassen. Das 5. Glied des Yoga heißt Pratyâhâra und beschreibt die Fähigkeit, unsere Sinne zurück zu ziehen – wie eine Schildkröte ihren Kopf einziehen kann. Unser Geist ist auf etwas so konzentriert, dass unsere Sinne nicht mehr auf äußere Reize reagieren. Unsere Sinne sind zwar noch fähig, etwas wahrzunehmen aber sie sind nicht durch anderes abgelenkt, sondern sie stimmen mit unserer geistigen Ausrichtung überein. Sie dienen unserem Geist nun und sind eins mit ihm. Solch ein Zustand geschieht ohne unser Zutun, wir können ihn nicht aktiv herstellen. Er geschieht von selbst, ebenso wie das 6. Glied des Yoga: Dhâranâ. Wir fokussieren unseren Geist in eine bestimmte Richtung. Wir richten uns auf einen einzigen Punkt aus, auf ein Objekt, eine Idee, ein Konzept. Wenn daraus eine Verbindung entsteht und unser Geist sich darauf einlässt, in eine Art Flow kommt, dann nennt man dies Dhyâna – das 7. Glied. Und wenn unser Geist mit dem Gegenstand unserer Betrachtung verschmilzt, wenn wir eintauchen und eins mit dem Objekt werden, uns selbst nicht mehr wahr nehmen, dann entsteht Samâdhi, das 8. Glied. Unser Geist ist in diesem Zustand ruhig und gebündelt, wir gehen in etwas auf, wir verstehen etwas nicht nur, wir begreifen es. Es gibt Informationen zu dieser Art von Versunkenheit, die gerne aufgeführt werden, wenn es um Schmerzen geht. Wenn wir auf etwas so konzentriert sind, dass wir unseren Geist darin versenken, nehmen wir unseren Körper – und so auch unsere etwaigen Schmerzen – nicht mehr wahr.
Übungen für mehr Klarheit
Eine solche Versenkung ist mit einem zerstreuten Geist heute sicherlich schwieriger unter all den Ablenkungen unserer schnelllebigen Welt. Aber wir können hier aktiv eingreifen und üben. Wir können günstige Voraussetzungen schaffen, um so einen Zustand zu erlangen.
Ich kann z.B. mit Meditation beginnen. Meditation beschreibt wohl am Besten das Gegenteil der zuvor ausgeführten Unruhe: Wir nehmen in einer Meditation unsere Gedanken wahr, wir folgen ihnen aber nicht. Wir greifen einen Gedanken nicht auf und denken weiter über ihn nach. Wir nehmen ihn wahr und lassen ihn gehen. Wir gehen nicht darauf ein. Sich in Meditation zu üben, klärt den Geist und lässt uns achtsamer für unsere Empfindungen und Reaktionen werden. Wir erlangen die Fähigkeit, unseren inneren Beobachter zu schulen und nicht kopflos auf alles zu reagieren.
Prânâyâma – also Atemübungen sind ebenso sinnvoll, um die Aktivitäten unseres Geistes zu beruhigen wie Âsana – unsere Yogahaltungen mit dem Körper. Beides sind aktive Tätigkeiten, um uns mehr auf die weiteren Glieder des Pfades vorzubereiten. Dabei kleine Routinen zu schaffen kann eine große Hilfe sein, um uns immer mal wieder zu fokussieren.
Der Sonnengruß zum Beispiel kann eine prima Morgenroutine sein. Ich praktiziere ihn morgens, nachdem ich in mein Journal geschrieben habe – ich muss zunächst ein wenig wach werden und aufgestanden sein, sonst ist mein Körper noch zu steif. Ich mache dann ca. 10-12 achtsame Sonnengrüße, die auf meine Atmung abgestimmt sind, ich konzentriere mich vollkommen auf den Fluss meines Atems und mache dazu passend jede Bewegung des Sonnengrußes ganz genüsslich. Das klärt gleich meinen Geist und lässt mich deutlich bewusster in meinen Tag starten. Probiert es gerne auch einmal aus. Darauf folgt noch eine kleine Atemübung, die die meisten unter Euch sicherlich ebenfalls kennen: Die Wechselatmung. Wir verschließen zuerst das rechte Nasenloch mit dem Daumen und atmen kraftvoll durch das Linke ein, verschließen das linke Nasenloch mit unserem Ringfinger und halten kurz unseren Atem. Bitte gebt hier auf Eure eigenen Bedürfnisse besonders Acht und haltet nur so lange, wie es für Euch angenehm ist. Dann öffnen wir das rechte Nasenloch und atmen dadurch aus. Danach atmen wir durch das geöffnete rechte Nasenloch wieder ein, während das Linke verschlossen bleibt und wiederholen den Vorgang anders herum. Dies mache ich für ca. 5-6 Minuten und stelle mir auch gerne einen Timer. Denn unsere Gedanken sind besonders morgens schon sehr aktiv und beschäftigen sich mit den Aufgaben des anstehenden Tages und dem „ich muss gleich los“ – wenn wir also einen Wecker stellen und so wissen, dass wir die Übung nur die Zeit machen, die wir auch haben, ist das sehr beruhigend für unsere Gedanken.
Yoga-Flow im Alltag
Diese Übungen sind nur ein winzig kleiner Ausschnitt von aktiven Möglichkeiten im Yoga, um unsere Gedanken zu klären und bewusster und achtsamer zu leben. Yoga zu praktizieren und sich eine längere Sequenz dafür Zeit zu nehmen ist dem klareren Geist sicherlich dienlich. In unserer Yogastunde legen wir unsere Smartphones beiseite und tauchen in unsere mentale Welt ein. Wir konzentrieren uns auf unsere Atmung und auf unseren Körper, wir versuchen ihn zu beachten und seine Bedürfnisse zu erspüren. Und diese Fähigkeiten bauen wir aus. Wir nehmen sie mit in unseren Alltag, wir nehmen unseren Körper wieder wahr, bemerken seine Bedürfnisse und sind so mehr bei uns. Wir haben mehr Ruhe die wir in unsere täglichen Aktivitäten übertragen können und es entsteht ein Flow – wir nehmen den Yoga-Flow unserer Praxis quasi mit : Wir bemerken, wie gut uns einzelnes tut und etablieren es häufiger, wir sorgen aktiv dafür, dass es uns besser geht und wir finden mehr und mehr zu uns und unserem körperlichen Empfinden zurück – weg vom ausschließlichen Bewusstsein. Und all diese Kleinigkeiten praktizieren wir mit Gelassenheit. Wir versuchen nicht, gewaltsam eine Änderung herbei zu führen – so lehrt es uns der Yoga. Sondern wir sind liebevoll und verständnisvoll. Wir beginnen an dem Punkt, wo wir sind und zwingen uns nicht in etwas hinein, was noch nicht ist. Wir lassen unserem Geist die Zeit die er braucht, um von einem aufreibenden Vormittag zum Beispiel erst einmal runter zu kommen und sich etwas zu beruhigen. Erst dann beginnen wir mit unserer Praxis. Wir können also nicht erwarten, dass wir z.B. gleich nach der Arbeit einen vollkommen achtsamen Spaziergang machen können, weil uns dabei vermutlich noch zu viel im Kopf umher geht, was verarbeitet werden will. Solche grundlegenden Bedürfnisse zu respektieren und nicht gewaltsam zu versuchen, dagegen anzukommen, ist sicherlich am Schwierigsten für uns, die es eher gewohnt sind unter Leistungsdruck zu funktionieren.