Erschrocken reiße ich die Augen auf und blicke nach links. War das ein schniefen? Ich schaue in das Gesicht meiner Kollegin und versuche wortlos zu erkunden, ob sie erkältet ist. Ist ihre Nase rot? Ich kneife die Augen zusammen und ziehe die Stirn in Falten, um ihr Gesicht zu inspizieren. Dann gucke ich hektisch woandershin, als sie mich dabei ertappt und fragend ansieht. Sie sitzt neben mir und für meinen Geschmack nicht weit genug weg – sofern sie denn tatsächlich etwas erkältet ist. Vielleicht hat sie aber auch nur eine Allergie? Ich winde mich bei dem Gedanken, etwas zu sagen. Ich will ihr…
… nicht das Gefühl geben, nicht willkommen zu sein. Sie hat heute ihren ersten Arbeitstag in unserer Abteilung. Ich verstehe sie sehr gut: Ich würde auch nicht an meinem ersten Arbeitstag zu Hause bleiben, wenn ich nur einen kleinen Schnupfen hätte. Trotzdem habe ich sowas von keinen Bock mich anzustecken. Ich will am Wochenende meine Schwester besuchen. Und das ist letztes Mal schon an einer Erkältung gescheitert. Aber ich will auch nicht unhöflich sein. Ich sinniere grade über diese eine Sache mit C., die uns alle dazu brachte auch bei kleinster Erkältung zu Hause zu bleiben und finde das fast attraktiv, als eine weitere Kollegin schnaufend und schniefend die Bürotür öffnet. Sie grinst: „Hallöchen! Hab einen leichten Schnupfen aber ist gar nicht schlimm. Hab auch einen Test gemacht, alles jut!“ Sie hustet. Oooookay, das reicht. Ich merke deutlich, wie ich an meine Toleranzgrenze komme. Ich atme sehr tief ein und noch tiefer wieder aus und sage mir selbst: „Julia, du bist eine erwachsene Frau und kannst tun, was du gern möchtest. Kein Grund unfreundlich zu werden, du kannst es nett formulieren.“ Trotzdem fechte ich innerlich weiterhin einen Kampf gegen mich aus: Ich weiß, wie manch einer es persönlich nimmt, aber darauf kann und will ich grade keine Rücksicht nehmen. Ich kann es nur kommunizieren. Ich straffe die Schultern als ich den Mund öffne: „Bitte nehmt es nicht persönlich, aber ich möchte mich nicht anstecken. Ich setze mich da hinten hin.“
Voll gut, dass unser Büro so riesig ist und ich zumindest die Möglichkeit habe, mich weit weit weg zu setzen. Außer einem gemurmelten „Okay“ kommt auch nichts weiter und ich ziehe erleichtert um. Und bin zugegebener Maßen auch ein klein wenig stolz: Vor einigen Jahren hätte ich das im Leben nicht getan, aus der Angst heraus, nicht gemocht zu werden. Aber aus meiner heutigen Sicht dreht sich eben vieles um mein Wohlbefinden. Und eine der der wertvollsten Lektionen, die ich auch auf meiner Yogamatte habe lernen können, ist es, meine eigenen Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren und zu respektieren.
Auf der Matte lernen wir, auf unseren Körper zu hören. Wir spüren die Grenzen unserer Flexibilität, Kraft und Ausdauer. Wir erkennen, dass es Zeiten gibt, in denen wir mehr Ausdauer und Kraft haben und eben auch weniger. Dieses Bewusstsein für unsere körperlichen Grenzen lehrt uns, unseren Körper zu respektieren und liebevoll mit ihm umzugehen. Und diese Lektion beschränkt sich eben nicht nur auf die Yogapraxis selbst – sie erstreckt sich auf jeden Aspekt unseres Lebens.
Sie ermutigt uns auch, unsere emotionalen, mentalen und energetischen Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren. Indem wir uns erlauben, unsere Gefühle und Gedanken anzuerkennen, ohne sie zu verurteilen oder zu unterdrücken, lernen wir, uns selbst anzunehmen. Und das eben nicht nur auf der Matte sondern auch in unserem Alltag.
Hier findest Du einige praktische Tipps, um dich auf diesem Weg zu unterstützen:
- Mini Check-Ins: Nimm dir regelmäßig Zeit, um in dich hineinzuhorchen und deine körperlichen, emotionalen und mentalen Bedürfnisse zu erkennen.
- Handbremse: Erlaube dir, dich zurückzuziehen, wenn du spürst, dass du über deine Grenzen gehst – sei es körperlich, emotional oder energetisch.
- Kommunikation: Lerne, deine Bedürfnisse klar und respektvoll zu kommunizieren – sei es gegenüber deinem Yogalehrer, Freunden und Familie oder auf der Arbeit.
- Selbstmitgefühl: Sei sanft zu dir selbst, wenn du deine Grenzen erkennst und akzeptierst. Erinnere dich daran, dass es menschlich ist, Grenzen zu haben, und dass du dich nicht dafür schämen musst.
- Flexibilität: Sei offen dafür, deine Grenzen neu zu definieren und anzupassen, wenn sich deine Bedürfnisse im Laufe der Zeit ändern.
Indem wir unsere Grenzen auf der Yogamatte üben, können wir ein tieferes Verständnis für uns selbst entwickeln und so Schritt für Schritt eine liebevollere Beziehung zu unserem Körper, Geist und Seele kultivieren. Auf diese Weise wird Yoga zu einer ganzheitlichen Praxis.
Die Tipps ebenso wie die Umsetzung bedürfen natürlich ein wenig Übung. Und meine eigene Praxis im Alltag ist durchaus noch Ausbaufähig. Ich hätte schließlich auf der Arbeit auch die Möglichkeit, ins Home-Office zu gehen. Und dies hätte ich ebenso nutzen können, um mich vollständig aus der bakteriellen Gefahrenzone zu bewegen. Aber um das zu tun, fehlt mir eindeutig noch die Cojones. Oder mehr Übung. 🙂
P.S.: Du hast Lust, deine eigenen Grenzen entlang der Yogamatte kennen zu lernen? Dann komm gerne in meinen Selfcare-Guidance Workshop am 13.04.2024 von 14-17 Uhr bei Flowyoga.lifestyle in Hagen und erforsche mit mir deine ganz individuelle Selfcare. Wir fließen durch eine Yogapraxis, besprechen grundsätzliche Inhalte von Selffürsorge und tun uns selbst etwas Gutes. Zur Anmeldung und für mehr Infos geht es hier entlang. Der Workshop kostet 39,00€.