Die Sache mit den Grenzen ist immer mal wieder eine Topic in meinem Alltag. Ob bewusst gezogene, unterbewusst eingeforderte oder völlig überschrittene Grenzen, von allem ist immer mal wieder was dabei. Abgrenzung findet bei mir immer noch häufig in Verbindung mit Wut statt – sonst fällt es mir mehr oder weniger schwer. Ich neige dazu, mich ohne die Wut entweder sofort schuldig zu fühlen oder Mitleid mit meinem Gegenüber zu empfinden, was mich schlussendlich zum zurück rudern bringt. Ich verstehe den Anderen dann quasi besser als meine eigenen Bedürfnisse und revidiere mein vorheriges „Stopp“. Erst kürzlich ist mir ein Licht bzw. eher ein Scheinwerfer aufgegangen, als eine lange bewusste Erkenntnis eine Etage tiefer rutschte und ich endlich begriff: Grenzen setzen bedeutet nicht nur Nein zu sagen, wenn jemand anderes etwas fragt oder um etwas bittet. Es bedeutet zu sich, seiner Individualität und seinen Bedürfnissen zu stehen, also für sich selbst vollkommen einzustehen. Was macht es uns dann immer so schwer, denn diese Einsicht klingt doch durchaus zunächst sehr heldenhaft.
Als ich vor Kurzem den Podcast von Laura Malina Seiler mit der Folge Wie Du gesunde Grenzen setzen kannst* zum 2. Mal höre, fallen mir plötzlich ganz andere Worte auf und ich verstehe das ganze Konstrukt völlig anders als beim ersten Mal: Grenzen setzen bedeutet für mich offensichtlich auch mal jemandem sagen zu müssen, dass ich nicht mehr für diese eine Sache zur Verfügung stehe, dass ich z.B. das Gemotze oder das Kritisieren einfach nicht mehr hören möchte. Dass ich mich vielleicht gerne über etwas anderes unterhalten möchte. Es bedeutet auch, einem Freund bewusst zu machen, wie ich mich selbst dabei fühle, wenn er immer nur mit seinem Drama bei mir ankommt, oft aber noch nicht mal fragt wie es mir geht. Oder jemandem tatsächlich mitteilen zu müssen, was sein Verhalten (ob Lästern oder schlechte Laune verbreiten) für eine Wirkung auf mich hat und ich nicht mehr dazu bereit bin, mitzumachen. Vielleicht muss ich auch mal sagen: „Stopp, bitte lass mich aussprechen!“, weil ich ständig unterbrochen werde. Was auch immer es ist, meist empfinden die eher Harmonieliebenden unter uns solch kräftige Bitten als unangenehm. Vor allem, weil sie tendenziell ungewohnt sind.
Deshalb ist es hier auch am wichtigsten sich am besten schoon vorher zu überlegen, wie man das gerne ausdrücken möchte. Schließlich soll es nun nicht darum gehen, jemanden zu beleidigen oder anzugreifen. Da kann es sehr von Vorteil sein, sich mal darüber Gedanken gemacht zu haben denn seien wir ehrlich: Die meisten Dinge, die uns beschäftigten, wiederholen sich stetig. Es gibt immer wieder ähnliche Situationen in denen wir genervt von uns selber sind, weil wir nichts gesagt haben. Weil wir etwas einfach mal wieder mit uns haben machen lassen obwohl wir längst wissen, dass wir darauf keinen Bock mehr haben.
Wir sind alle individuell
Vor allem das Wissen darüber, dass ich vielleicht Grenzen ziehe, wo andere es bei weitem nicht tun müssen, hemmt mich gerne, mein Vorhaben auch in die Tat umzusetzen. Sich selbst genau das zu erlauben ist wahrscheinlich die Königsdisziplin. Wir sind eben alle unterschiedlich, man hat uns aber gerne zu Schulzeiten beigebracht, dass es keinen Platz für all unsere Eigenarten gibt und deshalb mussten wir uns anpassen. „Stell Dich nicht so an“ oder „Leg Dir mal ein dickeres Fell zu“ waren Aussagen, die uns als Kinder dazu brachten, unsere Bedürfnisse weg zu schieben und über unsere Grenzen hinweg zu gehen. Natürlich ist es für einen Lehrer in einer Klasse von 30 Kindern sicherlich ohnehin schon schwer. Wenn sich dann noch jedes Kind in Grenzen setzen ausprobiert, wird man der Meute vermutlich gar nicht mehr Herr. Außerdem taten das Umfeld und manch erziehungsberechtigte Person dazu auch noch ihr Übriges. Und so blieb leider nur wenig Raum für individuelle Abgrenzung. Genau das sollte uns bewusst sein, wenn wir uns nicht trauen eine Grenze zu ziehen: Es ist uns vielleicht aberzogen worden, dazu zu stehen, aber wir haben jedes Recht heute als Erwachsene „Nein“ zu etwas zu sagen. Um langfristig gesund zu bleiben, um unseren Tag aktiv gestalten zu können und uns selbst zu erschaffen, was wir wirklich wollen. Und auch um gut drauf zu bleiben ist es nicht schlecht, wenn man zu seinen Grenzen steht, denn gerne reiten wir darauf herum, wenn unsere Grenze bei weitem überschritten wurde. Gerne nehme ich mir das tagelang mit, wenn ich etwas einfach nur „ausgehalten“ habe, ohne etwas zu ändern obwohl ich die ganze Zeit merkte, dass ich mich völlig erdrückt fühlte. Manche Menschen tragen solche Erfahrungen sogar jahrelang mit sich herum – wer kennt nicht einen alten Bekannten oder einen entfernten Onkel, der sich auf gemeinsamen Festen immer und immer wieder über eine längst vergangene Geschichte auslässt und es nicht schafft, diese zu überwinden.
Glaubenssätze und ein schlechtes Feeling
Wir halten dabei gern mal aus, was sich schlecht anfühlt, ohne etwas zu sagen. Es fühlt sich eng und kräftezehrend an und weil wir den anderen nicht verletzten und niemandem auf den Schlips treten wollen, bleiben wir stumm. Und das ganze passiert, weil wir das ebenso miese Gefühl fürchten, was sich einstellt, wenn wir etwas sagen und uns dann schuldig fühlen. Das ist doch verrückt! Schließlich meiden wir hier ein schlechtes Feeling für ein schlechtes Feeling. Und zudem respektieren wir offensichtlich die Gefühle des Anderen mehr als unsere eigenen. Wenn wir uns das mal klar machen, merken wir schnell wie paradox wir uns verhalten.
„Ich bin nicht wichtig“ ist dabei gerne einer der Hauptantreiber in Sachen Glaubenssätze. Und selbst dabei ist mir kürzlich noch eine Erkenntnis gekommen, bei der ich laut loslachen musste als mir aufging wie ich mich hier gerne selbst verarsche. Denn genau diesen Glauben und das Wissen um ihn nahm ich als Ausrede dafür, eben keine Grenzen ziehen zu müssen. Ich scheue eine Konfrontation, das ist nichts neues und ich erzähle mir unbewusst die genialsten Sachen, um dahingehend weiterhin geduckt durchs Leben zu gehen. Dass einer dieser Sätze „ich bin nicht wichtig“ lautet weiss ich schon länger – besonders weil ich meine eigenen Gefühle oft nicht ernst genug nehme, um sie anzunehmen. Aber hier überzeugte ich mich selbst davon, dass ich immer durch die Brille dieses Glaubenssatzes gucke und deshalb besonders sensibel in mancherlei Hinsicht bin und deshalb nichts sagen darf. Ich versuche das Problem in mir selbst zu klären und mich zu überzeugen, dass meine Wahrnehmung gar nicht stimmt und ich das nur durch den Filter des „nicht wichtig seins“ wahrnehme. Das mag durchaus ein Teil der Wahrheit sein, aber hier wirkt dieser Satz auch gleichermaßen unbewusst, denn er lässt mich so agieren, dass ich mich selbst danach verhalte, nicht wichtig zu sein. Aber trotzdem bedeutet dass doch nicht, dass ich nichts sagen darf wenn ich immer wieder beispielsweise unterbrochen werde oder? Ich kann doch trotzdem um Gehör bitten, selbst wenn ich da genau wegen diesem Glaubenssatz sensibler bin, nicht wahr? Ich merke, es wird hier eindeutig etwas wirr in dem Versuch zu erklären, wie tief das alles miteinander verwoben ist. Und Ich hoffe, der ein oder andere konnte mir dennoch folgen. Falls nicht, kein Problem – den Absatz könnt ihr auch überspringen. 🙂
Sag was Du wirklich willst
Schlussendlich geht es auch hier mal wieder um Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, sich auszudrücken. Ich arbeite in einem Großraumbüro, da ist es bestimmt nicht verwunderlich, wenn ich: „Bitte sprich etwas leiser“ zu jemandem sage. Oder wenn es um ein Thema geht, was ich einfach nicht schon wieder durchkauen möchte: „Du ich mag lieber über was anderes sprechen, okay? Wie war denn dein Wochenende?“ Wenn sich mal wieder jemand über das immer Gleiche aufregt, dürfen wir sagen: „Ich verstehe dich, können wir trotzdem über ein anderes Thema reden?“ Und generell: „Ich brauche Freiraum /Ruhe / Zeit für mich / Stille“ sollte ein Satz in jedermanns Repertoire sein. „Nein ich will heute keinen Alkohol trinken!“ ist auch sehr wertvoll oder auch „Ich möchte jetzt gehen.“ Wenn jemand schlechte Laune hat und die ganze Stimmung herunter zieht indem er es an allen heraus lässt auch da heißt Verständnis nicht, dass ich das dann eben nur aushalte: „Hast Du schlechte Laune/Geht es Dir heute nicht gut? Das verstehe ich, geht mir auch mal so. Trotzdem möchte ich jetzt lieber was anderes und möchte lieber gehen.“ Klar, das klingt erstmal hart und ist bestimmt kein Satz, den man zum üben nutzt. Aber letztendlich hat man sein Gegenüber nicht angegriffen, sondern nur sich selbst positioniert. So weiß jeder woran er ist und sendet eine klare Botschaft aus Verständnis und Grenze. Karin Kuschiks Buch 50 Sätze die das Leben leichter machen* ist hier übrigens Gold wert. Ich lese es grade bereits zum 2. Mal und man kann es hervorragend nutzen, um seine eigenen Alltagssituationen mal unter die Lupe zu nehmen. Es enthält einfach großartige Sätze aus Ich-Botschaften, die sich jeder so zurecht formulieren kann, wie es für ihn am besten passt. Kann ich wirklich nur empfehlen. Es lohnt sich auch, ihr auch auf instagram zu folgen: @karinkuschik. Dort teilt sie mit uns manch souveräne Sätze und auch einn paar Weisheiten dazu. Wer sich noch mehr mit Abgrenzung beschäftigen möchte, mag vielleicht auch die erwähnte Podcastfolge* aus dem Podcast Happy Holy and Confident anhören, denn dort gibt Laura Seiler tolle Tipps, um sich abzugrenzen.
Das alles bedeutet übrigens nicht, dass man selbst erst perfekt voran gehen muss, damit man was sagen darf, denn solche diffusen Ideen hab ich gern auch mal. Es geht nur darum, Deine Bedürfnisse zu kommunizieren möglichst ohne den anderen zu verletzten. Nur weil ich aber um Ruhe bitte, heißt das natürlich nicht automatisch, dass ich immer leise und still bin und erst darum bitten darf, wenn ich selbst perfekt beherrsche, immer leise zu sein. Es geht darum, um Rücksicht zu bitten oder auch um Respekt. Und Dein Bedürfnis muss auch niemand verstehen, außer dir selbst.
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