Über Zahnarztbesuche, Werte und Vergebung

Tränen laufen über meine Wangen, die mir von der Zahnarzthelferin liebevoll weggewischt werden. „Ist gleich vorbei, alles wird gut“, sagt sie, um mich zu beruhigen und tätschelt mir freundlich die Schulter. Trotzdem bin ich verunsichert: Was mach ich hier? Ist das richtig?

Ich weine nicht, weil es weh tut. Im Gegenteil, ich merke eigentlich gar nichts und versuche so gut es geht, nicht zu denken und nicht zu viel zu fühlen. Ich weine um meine Zähne. Darum, dass ich auch die Guten, Heilen für eine Lösung eintauschen muss. Ich weine, weil ich leider trotz aller Logik nicht restlos überzeugt bin. Aber ich habe mich trotzdem hier hin begeben. Denn es gibt einen Wert, der mir wichtiger ist, als meine Zähne: Freiheit. Und deshalb bin diesen Deal eingegangen. Denn die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass ich ohne meine alten kaputten Zähne besser reisen kann als mit ihnen. Aber von vorn:

2 meiner Zähne, die sich leider auch im Sichtbereich befinden, müssen früher oder später gehen. Das weiß ich schon lange. Doch sie gaben jahrelang keinen Mucks von sich. Bis vor einem halben Jahr. Dann fing einer von ihnen an zu pochen. Zu bluten. Immer wieder, immer öfter. Ich war genervt, wollte aber so verbissen (haha) hoffen, dass es wieder gut wird. Wurde es nicht. Und dann sah ich ein: wenn ich das noch vor meiner großen Reise* loswerden will, muss ich mich schnell entscheiden. Denn das möchte ich dann doch gern bei dem Zahnarzt machen, den ich kenne. Als er mir eine Lösung anbietet, bin ich erst mal voll erleichtert: Es ist zwar teuer, aber ich gehe nicht pleite. Und ich hatte so gebangt, ob man überhaupt etwas machen kann, dass ich einfach froh bin, eine Lösung zu bekommen. Das ändert sich leider schnell:

Ich denke oft darüber nach, alle Gedanken quälen mich: Ist das so richtig, sollte ich vielleicht was anderes versuchen? Weniger radikal? Was ist mit meinen schönen Frontzähnen? Schleifen müssen sie die.** Ach du scheiße, das will ich nicht! Ich steigere mich immer mehr rein, bis ich sogar eine Panikattacke bekomme. Ich kann das nicht!!! So renne ich in die Praxis und sage den Termin wieder ab: Ich bin doch nicht bescheuert! Auch dass meine Zähne jetzt so blöd verkantet sind und sie nun raus müssen, hat meiner Meinung nach ein Zahnarzt vor 20 Jahren verschuldet und wohl nicht über das langfristige Ergebnis nachgedacht. Und nun habe ich den Salat. Ne, das mach ich doch nicht nochmal! Es nervt mich zwar, aber es tut ja nicht weh. Also fliege ich so. Und wenn es doch schlimm wird, muss ich halt zurück kommen.

So versuche ich mich zu beruhigen. Leider bin ich aber zu kaum einem anderen Gedanken fähig. Das Thema verschwindet nicht, es wird immer größer. Beherrscht meinen ganzen Tag. Nicht, weil es weh tut. Sondern weil ich nicht aufhören kann, daran zu denken. Alles kreist darum. Doch die Tatsache, nun für mich selbst eine Entscheidung treffen zu müssen, zwingt mich fast in die Knie. Denn damals konnte ich die Schuld ja meiner Mutter geben. Und ich merke sogar, dass mich das heute noch beschäftigt. Ich bin sauer auf die Situation, auf die damalige Lösung und die Zahnärzte von früher und sogar auf meine Mutter. Hätten die damals was anderes entschieden, wäre ich vielleicht jetzt nicht in dieser Situation! Verdammt!

Mein Freund tut was er kann. Er hält alle geballten Emotionen: die ganze Verzweiflung und all die Tränen, die sich offenbaren. Er gibt mir einen Raum, damit sein zu können und ich bin unendlich dankbar dafür! Das kenne ich so nicht, komme mir super anstrengend vor und finde das absolut nicht selbstverständlich.

Und schließlich sehe ich ein: Vielleicht hat es einen Sinn, dass es mich so beschäftigt. Vielleicht muss ich es doch angehen, damit ich es loslassen kann? Und so gehe ich wieder zum Zahnarzt, mit der Unterstützung meines Freundes und mache einen neuen Termin. Komme mir dabei vor, wie die nervigste Patientin unter der Sonne, aber auch das halte ich so grade noch aus. Bzw. mein Freund hält all das für mich mit aus – und auch noch alle weiteren hysterischen Anfälle und Zweifel, die unweigerlich folgen. Und während ich auf dem Zahnarztstuhl weine, sitzt er mit dem Laptop im mobilen Office auf dem Schoß im gleichen Raum und ist für mich da. Ohne ihn hätte ich das nicht durchgezogen. <3

Nun sind 3,5 Wochen vergangen und bin in erster Linie erleichtert. Ich gewöhne mich recht schnell an die Neuerung in meinem Mund. Ich bin erstaunt, wie anpassungsfähig Körper und Geist sind. Und auch wenn es teilweise noch nervt und weh tut, ist das alles nicht ansatzweise so schlimm, wie die Sorgen und dramatischen Gedanken, die ich mir dazu ausgemalt habe. Und in diesem ganzen Prozess ist zudem etwas unglaublich schönes passiert:

Ich ging eine Woche vor dem Eingriff zu einer Hypnosesitzung, um besser mit meiner Angst umzugehen. Dadurch und durch das Auseinandersetzen mit der Situation konnte ich die Vorwürfe an meine Mutter und ihre damalige Entscheidung, ebenso wie die an die Zahnärzte auflösen. Denn ich habe eingesehen, dass sie vermutlich die beste Entscheidung getroffen haben und nichts Böses im Sinn hatten. Dass ich dadurch fast 20 Jahre lang keinen Zahnersatz brauchte. Wer weiß, vielleicht hätte das sonst viel früher sein müssen. Diese Vorwürfe waren so lange ein Teil von mir. Ich konnte also die Perspektive auf die gesamte Situation ändern und verzeihen. Und das ist – neben meinen neuen, sogar recht hübschen Zähnen – wohl das Schönste und Erleichternste daran.

*nach Thailand im Januar und dann mal gucken, Ende offen

**zur Erklärung für alle, die da keine Erfahrung mit haben: Ich soll eine Brücke bekommen. Diese wird an den Zähnen neben der Lücke befestigt. Diese Zähne müssen aber geschliffen werden, um dann eine Krone mit daran hängender Brücke von unechten Zähnen darauf zu setzen.

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