Auf unserem Yoga-Weg praktizieren wir unterschiedlichste Âsana – also Haltungen und Positionen – mit dem Ziel einen Punkt zu erreichen, an dem wir zuvor noch nicht waren. Das kann sowohl mental als auch körperlich aufgefasst werden, denn Yoga ist viel mehr als nur das Dehnen des Körpers. Es ist vielmehr ein ganzheitliches Prinzip. Yoga ist liebevoll und berücksichtigt die Individualität eines jeden von uns – ein Grund warum ich es so liebe. Außerdem hat Yoga einen Weitblick, den ich mir selber häufig in meinem Alltag wünsche: für uns schwierig auszuführende Âsana werden schrittweise vorbereitet, um ihnen Stück für Stück näher zu kommen. Außerdem werden sie durch eine Gegenbewegung -Pratikriyâsana- neutralisiert, um den erzeugten Druck zu verringern und um den Körper langfristig zu schützen. Auch im Alltag ist so ein Ausgleich nötig, um mentalen Druck abzubauen und sich selbst zu neutralisieren. Können wir also dieses Prinzip auf unseren Alltag übertragen?
In unserem Alltag reagieren wir oft automatisch und fast ferngesteuert, weil wir viele aufeinander folgende Verpflichtungen haben: Die Familie an Weihnachten bekochen, einkaufen, die Kinder von der Schule abholen, putzen, den Flur wischen, Freunde treffen, mit dem Hund raus gehen und natürlich wollen wir das alles fröhlich und munter tun, wir wollen dabei gern fabelhaft aussehen und gesund und fit sein. Das heißt, wir frisieren unsere Haare, schminken unsere Gesichter, gehen regelmäßig zum Sport und ernähren uns gesund. Und weil das alles überhaupt nicht einfach ist, bleibt etwas davon auf der Strecke und wir fühlen uns schlecht. Der Drang, alles unter einen Hut zu bekommen verschmilzt mit Perfektion und wir schaffen es nicht, aktiv Prioritäten zu setzen und etwas bewusst los zu lassen, sondern fühlen uns hinterher mies, weil wir es „mal wieder nicht geschafft haben“. Wir erzeugen Druck, der sich in uns nieder lässt und wir lassen ihn nicht gehen – nein – wir verstärken ihn am folgenden Tag, wenn wir uns noch mehr anstrengen. Denn hat man besonders den Frauen unter uns nicht beigebracht, wenn man sich nur genügend anstrengt und bemüht, Multitasking voraus gesetzt, könnten wir alles schaffen?
Yoga ist gütig und verständnisvoll. Wir sollen immer auf uns und unseren Körper Rücksicht nehmen, ihn bemerken und nicht gegen ihn arbeiten. Wir sollen eine Pause machen, wenn wir sie benötigen und wir machen eine Gegenbewegung, um Spannungen loszulassen. Diese Ausgleichshaltungen – nicht zu verwechseln mit Umkehrhaltungen, den Körper zumindest teilweise umdrehen, z.B. der Kopfstand – sind im Yoga etwas alltägliches, um besonders auf langfristige Sicht keinen Schaden zu nehmen und Schwierigkeiten zu vermeiden. Besonders die schwierigsten âsana wie shirshâsana – der Kopfstand- belasten bestimmte Bereiche des Körpers enorm. Der Nacken trägt dabei einen Großteil des Körpergewichts und ein plötzliches Beenden dieser Haltung würde sicherlich Schwindel oder Kreislaufprobleme auslösen. Deshalb ist das Neutralisieren enorm wichtig, um wieder in unseren Alltag zu finden und alles gelassen erledigen zu können, was auf unsere Praxis folgt. T.K.V. Desikachar erzählt in dem Buch „Yoga – Tradition und Erfahrung“ die Geschichte von seinem Bruder, der als Kind ständig behauptete zu wissen, wie man auf Bäume klettert. Als er dieses Können präsentieren sollte, schaffte er es tatsächlich problemlos, die Krone einer Palme zu erreichen. Aber er wusste danach nicht, wie er wieder herunter steigen sollte und musste dort verharren, bis ihm jemand zu Hilfe kam. Diese Erzählung beschreibt sehr gut, wie eine Ausgleichsübung auch gemeint sein kann: Wir müssen nicht nur in eine Position hinein finden, sondern auch wieder zurück zu dem Punkt, von welchem aus wir wie gewohnt weiter machen können – sei es die Yoga-Stunde oder unser Tag – ohne uns etwas verrenkt zu haben oder Schmerzen zu empfinden. Sich also in eine Übung hinein zu zwingen kann nicht Ziel unserer Handlungen sein. Außerdem führen wir unsere Pratikriyâsana sanft und liebevoll aus, nicht mit Gewalt.
Diese Philosophie können wir auch auf unseren Alltag übertragen, sollten wir sogar. Haben wir viel um die Ohren ist es vermutlich besonders wichtig, von Zeit zu Zeit einen Ausgleich zu schaffen. Auf viel Trubel und Lautstärke Ruhe folgen zu lassen, auf körperliche Anstrengung Entspannung, auf viel Sitzen einen Spaziergang. Wahrscheinlich ist uns das auch bewusst, aber integrieren wir das auch wirklich in unsere Woche? Ich selbst bin großer Fan von Thai-Massagen und Sauna-Gängen, von ausgiebigen Spaziergängen und bewussten Cappuccinos, die ich mir gönne. Ich habe eine Liste angefertigt mit all den Dingen, die mir in meinem Alltag Kraft geben und die mir helfen, einen Ausgleich zu schaffen. Das kann ich Euch nur empfehlen, denn es vereinfacht uns die Entscheidung für ein solches Vorhaben ungemein.
Regelmäßig die angestaute Spannung zu neutralisieren ist beruhigend für Körper, Geist und Seele. Außerdem ist Planung natürlich alles. Tragt es Euch in Euren Kalender ein, wenn ihr die kommende Woche durch geht. Was steht an? Wird es hektisch? Was könntet Ihr für einen Ausgleich brauchen und wann schafft Ihr Platz dafür? Ich schreibe hier bewusst „schaffen“, denn auf den ersten Blick erscheinen die Termine der Woche sicherlich für viele von uns so getaktet, dass kein Zeitfenster übrig ist. Aber möglicherweise kann man eines schaffen, indem man jemanden um Hilfe bittet, etwas delegiert oder etwas weg streicht, was bei näherer Betrachtung und Berücksichtigung der eigenen Werte (nicht der Gesellschaft, der Mutter und der Erwartungen der Nachbarn) gar nicht nötig ist. Denn ohne Dich gibt es Dein Leben nicht. Und ich wünsche mir für Dich, dass es Dir Freude bringt und Spaß macht und dass es für Dich Ausgleiche gibt, die ein Genuß für Dich sind.
Quelle: T.K.V. Desikachar: Yoga – Tradition und Erfahrung, 8. Auflage 2020, Verlag Via Nova